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Wer hat`s versemmelt?
#1
Wer hat`s versemmelt?
Irgendjemand muss schuld sein, dass das Frühstück nicht mehr schmeckt. Eine Spurensuche
( Aus der Süddeutschen Zeitung – Datum: unbekannt)

Vielleicht muss man heute besessen sein, um gute Semmeln zu backen. So wie Anton Gürtner, 43, aus Oberroth nach Dachau. Nachts um halb vier , draußen schneit es, seit gut 2 Stunden werkeln seine 6 Mitarbeiter in der Bäckerei. Gürtner steht, mit einem T-Shirt bekleidet, oben im eiskalten Speicher. Hier reihen sich 6 Silos aneinander, Weizen, Roggen, Dinkel, Hafer, die er jedem zeigt, der ihn besucht. Wenn Gürtner erst mal hier ist, bei seinen Rohstoffen, kommt er so richtig in Fahrt. Er hat viel gelesen, ihn wundert nichts mehr; schon gar, dass die Semmeln immer schlechter schmecken. Geht doch schon beim Weizen los!
Was hat die Industrie nicht alles mit ihm angestellt!
Seine Enzyme überzüchtet, dass ihn viele Menschen schon gar nicht mehr verdauen können.
Die Felder tot gespritzt, das Unkraut und auch den Weizen selbst, mit Insektiziden, Pestiziden, Fungiziden. Wie soll aus diesem geschundenen Gewächs noch ein gutes und lebendiges Lebensmittel entstehen? Und dann kommen noch die Müller, die das Getreide oft genug sofort vermahlen, >früher lag es nach der Ernte gut noch mal 3 Wochen, um nachzureifen<. Dafür wird dem Mehl Ascorbinsäure beigemischt, > damit es schneller altert und backfähig wird<, schimpft Gürtner, unbeeindruckt davon, dass Müller behaupten, ihr Mehl sei nie besser gewesen.
Vor 20 Jahren zog Anton Gürtner die Konsequenzen. > Wir waren eine ganz konventionelle Bäckerei mit konventionellen Mehlen.<
Damals mehrten sich die Kunden, die über Allergien klagten. Normale Menschen, keine Großstadt-Hypochonder, Oberroth ist ein Dorf mit 1000 Einwohnern.( wieso?? Es heißt doch, auf dem Lande gäbe es weniger Allergien....wegen Immuntraining durch Dreck!!!???)
Gürtner beschloss, den Betrieb auf den Kopf zu stellen. Er warf die Backmittel aus dem Lager, > die ganze Chemie halt<, deckte sich mit Getreide ein vom Biobauern aus der Region und entwickelte neue Rezepte. An manchen feilte er mit seinen Mitarbeitern ein halbes Jahr. > Wir wollten einfach das beste Produkt<. Inzwischen wurde Gürtner mehrfach ausgezeichnet, von der Zeitschrift „Feinschmecker“ wie der Deutschen Landwirtschaftsgenossenschaft. Er beliefert 4 Bioläden in Dachau, sein kleiner Laden in Oberroth läuft, der Umsatz wächst. Gute Semmeln gehen auch in der Wirtschaftskrise weg. Selbst wenn sie 26 Cent das Stück kosten, genauso viel wie in München, 25 km südlich.

Woran erkennt man eine gute Semmel überhaupt?
Walter Freund, früher Bäcker, jetzt Professor für Lebensmittelwissenschaft an der Uni Hannover, beschäftigt sich seit 30 Jahren mit solchen Fragen. Goldbraun sollte sie sein, mit feinen Rissen auf der Kruste, sagt er, und rösch, also knusprig. Drückt man sie mit der flachen Hand, so muss man ein „ leises Rascheln“ hören. Knackst es nur einmal, ist die Semmel zu hart, hört man gar nichts, ist sie zu pappig. > Das Innere der Semmel, die Krume, sollte elastisch sein, nach einem Daumendruck quasi zurückfedern. Tut sie das nicht, wird man gleich beim ersten Bissen feststellen, dass sich der Teig ballt wie ein Kaugummi.
Bleibt der Geschmack: Um den zu testen, pult man mit dem Finger etwas von der gelblichweißen Krume heraus. Sie sollte weder süß noch sauer noch salzig schmecken. Neutral – aber nicht fade!. Aromatisch, mit etwas Malz vielleicht. Schwer zu beschreiben, auch für Walter Freund, den Lebensmittelprofessor.

Das Wort Semmel geht auf den lateinischen Begriff simila zurück, das Weizenmehl, die wichtigste Zutat. Laut Überlieferung schuf ein Wiener Bäcker um 1750 die erste Semmel – sie hieß Kaisersemmel. Ihr Teig unterschied sich nicht groß vom normalen Weißbrotteig, dennoch hatte die Semmel ein großes Plus: den im Vergleich zum Brotlaib hohen Krustenanteil. Das bedeutet mehr Aroma, denn die Kruste trägt 80% der Geschmacksstoffe.
Lange Zeit war die Semmel ein Luxusartikel, viele Bäcker stellten sie nur zum Wochenende her. Erst mit dem Wirtschaftswunder wurde die Semmel zur Alltagsware.. Bald lag sie auch im Supermarkt aus, 10 Stück im roten netz. Die Manager hatten Wind davon bekommen, dass die Bäcker gut verdienten mit den Brötchen, eine Gewinnspanne von 50% war die Regel. Außerdem sollte das Gebäck die Kundschaft anlocken, ihr tägliches Brot- und nicht nur das – im billigen Supermarkt zu kaufen. Der Abstieg der Semmel hatte begonnen.
In den 70er Jahren tauchten die ersten Umfragen des Wickert-Instituts in den Zeitungen auf: „ 39% der deutschen mit ihren Semmeln unzufrieden“ oder „ 71% der Deutschen wären bereit, 1 oder 2 Pfennige mehr zu zahlen, wenn die Qualität besser würde“.
Beklagt wurden die mangelnde frische, der klumpige Teig und eine überknusprige Kruste, die beim Aufschneiden in 1000 Stücke zerspringt. Irgendwann stellte das Wickert-Institut seine Umfragen ein. Die schlechten Semmeln blieben.
Allzu gern lastet die Lobby der kleinen Handwerksbäcker allein den Großbäckereien wie Kamps oder Müller Brot den Qualitätsverlust an. Empört sich über die „Massenbrothaltung“ der Supermärkte. Oder über die Discountbäcker, die sich in den Großstädten ausbreiten und Backwerk, Backmarkt oder Back-Factory heißen ( oder backbude.de)
Sie böten Einheitsware zu Niedrigpreisen, hergestellt aus tiefgefrorenen Teiglingen, die zum Teil aus „Niedriglohnländern“ stammen, klagt der Zentralverband des Deutschen Bäckerhandwerks auf seiner Webseite. Mag ja sein. Trotzdem reagieren die Handwerksbäckereien darauf nicht mit handwerklicher Topqualität, Service und Vielfalt, wie der Zentralverband schreibt. Hinter vorgehaltener Hand geben selbst Vertreter der Bäckerinnungen zu, dass ihre eigene Mitglieder das Handwerk verlernt haben. Auch der gute alte Bäcker von nebenan weiß heute kaum noch, wie man gute Semmeln backt.
Was ist so schwer daran, Wasser, Mehl, Hefe und Salz zu einem vernünftigen Teig zu verrühren und dann in den Ofen zu schieben? Die Bäcker müssten die Semmel gar nicht neu erfinden. > Wir machen es nach derselben Methode wie früher mein Großvater< sagt der Kleinbäcker Anton Gürtner aus Oberroth. Seine Leute arbeiten mit Vorteigen aus Mehl, Wasser, Hefe oder Sauerteig. Der Vorteig geht rund 20 Stunden, ehe er mit dem Hauptteig aus den gleichen Zutaten sowie etwas Salz vermischt wird. Ein Gramm Mehl enthält bis zu 10 000 Mikro-Organismen, erklärt Professor Freund. Kommt Wasser hinzu, wachsen die Organismen und erzeugen im Zusammenspiel mit der zugesetzten Hefe das, was wir beim Kauen als Geschmack oder Aroma wahrnehmen. Aber dieser Prozess braucht Zeit- viel Zeit! Wenn die Bäcker etwas nicht hatten in den vergangenen 30 Jahren, dann war das : ZEIT!
„Das Brot des Bäckers“ heißt ein Fernsehfilm von 1976, der die Misere erstaunlich realistisch nachzeichnet. Günter Lamprecht in der Rolle des Georg Baum betreibt einen Bäckerladen in der Kleinstadt. Nebenan eröffnet ein Supermarkt mit einem Preishammer: zehn Semmeln für 32 Pfennige! Baum verlangt 4x so viel. Er nimmt den Kampf auf , entschließt sich zu rationalisieren. Mit einem Kredit der Bäckergenossenschaft kauft er für 235 000 DM Maschinen, die Brote und Brötchen am Fließband produzieren. „ Das holen wir alles rein, mit höherem Absatz“ sagt er seinen verschreckten Mitarbeitern. Doch die Kundschaft wandert ab. Im Preis bleibt der Supermarkt unschlagbar, zudem schmecken Baums Fließbandprodukte nicht mehr so wie früher. Also rät der Vertreter der Genossenschaft dem verzweifelten Bäcker, Backmittel einzusetzen. Am Ende kann sich Baum nicht einmal mehr einen Gesellen leisten. Allein steht er in der Backstube, abgestiegen vom Handwerker zum Handlanger seiner Maschinen . (...und das mit Unterstützung der Innung/ Genossenschaft!!!)
Walter Freund beschrieb das Vordringen der Industrie in die Bäckerstuben in einem Buch. Der Titel :“ Handwerk ohne Hände“.
Die Bäcker richten ihre > Teigqualität zunehmend auf die Bedürfnisse ihrer Maschinen aus<, kritisiert er. Mögen saftige Semmeln auch besser schmecken, automatische Semmelanlagen arbeiten nun mal lieber mit trockenen Teigen. Immer ungenierter greifen Handwerksbäcker zu den Tüten von Ireks, Uldo oder Meistermarken. Tüten mit Backmitteln voller synthetisch hergestellter Enzyme und Emulgatoren. Alpha-Amylase, Lecithin, Diacetylweinsäureester, so heißen die neuen Zutaten der Weizensemmel. Mittel, die dem Teig gleichmäßigere Poren, mehr Volumen und Stabilität verleihen. Und Geschmack – zumindest künstlichen!
Viele kleine Bäcker rühren auch gleich Fertigmischungen mit Wasser zusammen und backen das Ganze im Ofen aus, um dem verwöhnten Kunden ein breites Sortiment anbieten zu können. Der Kornspitz ist so ein Produkt, inzwischen in Bäckereien von Kiel bis Garmisch erhältlich, entwickelt wurde er in den Labors der österreichischen Zulieferfirma Backaldrin.
Mit Bäckerhandwerk hat das alles wenig zu tun. Trotzdem feiert der Zentralverband der Branche Deutschland weiter als Brotweltmeister, als wären die 300 Brotsorten und 1200 verschiedene Kleingebäcke ein Ausweis handwerklicher Tüchtigkeit.
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Wer hat`s versemmelt? - von Uli - 14.08.2004, 18:33
Re: Wer hat`s versemmelt? - von Uli - 07.04.2009, 13:04
Re: Wer hat`s versemmelt? - von Bolek - 09.04.2009, 02:18
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Re: Wer hat`s versemmelt? - von Bolek - 11.04.2009, 22:40
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Re: Wer hat`s versemmelt? - von Uli - 26.04.2010, 08:33
Re: Wer hat`s versemmelt? - von Uli - 19.07.2010, 16:57
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Re: Wer hat`s versemmelt? - von Bolek - 11.05.2011, 22:14
Re: Wer hat`s versemmelt? - von claudiliit - 12.05.2011, 14:44
Re: Wer hat`s versemmelt? - von Bolek - 12.05.2011, 17:55
Re: Wer hat`s versemmelt? - von Uli - 17.02.2013, 18:49
Re: Wer hat`s versemmelt? - von Uli - 24.03.2013, 10:11
Re: Wer hat`s versemmelt? - von Ulrike - 30.05.2013, 12:36
Re: Wer hat`s versemmelt? - von Bolek - 03.06.2013, 00:49
Re: Wer hat`s versemmelt? - von Ulrike - 04.06.2013, 21:15
Re: Wer hat`s versemmelt? - von Ulrike - 04.06.2013, 21:17
Re: Wer hat`s versemmelt? - von Bolek - 07.06.2013, 10:15
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RE: Wer hat`s versemmelt? - von Uli - 14.08.2022, 09:23
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Wer hat`s versemmelt? - von Uli - 21.06.2006, 12:12
Wer hat`s versemmelt? - von Uli - 05.04.2008, 09:12

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